Ein Wegweiser für ein beglückendes Zusammenleben mit einem Herdenschutzhund
Was braucht der Herdenschutzhund zu seinem Glück?

© Mirjam Cordt – DOG-InForm, August 2014


„Herdenschutzhunde“… allein schon diese Bezeichnung für diesen faszinierenden Hundetypus sorgt oftmals für Missverständnisse - suggeriert sie doch, dass dieser Hundetypus zum Glücklichsein eine Herde benötigt, die er bewachen „darf“.

Mit „Herdenschutzhund“ wird aber nur eines seiner Arbeitsfelder beschrieben: das Bewachen von Herdentieren. Ihn allein darauf zu beschränken wird ihm nicht gerecht. Grundsätzlich müssen alle seine Besonderheiten und individuellen Ausprägungen beachtet werden, um das Zusammenleben dieser Hunde mit seinen Menschen harmonisch und für beide Seiten erfüllend zu gestalten.

Auch ich verwende das Wort „Herdenschutzhund“, um eine Verwechslung mit Hütehunden auszuschließen, wohl wissend, dass hiermit nicht ihrem gesamten Können Rechnung getragen wird. Ebenfalls verwende ich gerne die Abkürzung HSH, die sich aus Herdenschutzhund ergibt und auch als Abkürzung für eine weitere Bezeichnung verstanden werden kann:

Hirtenhunde mit primär
Schutzfunktion und sekundär
Herdengebrauchshundqualitäten

HSH sind in der Regel großwüchsige Hunde mit kräftigem Körperbau und dichtem, witterungsunempfindlichem, sehr variationsreichem Fell. Sie sind äußerst sensibel und feinfühlig, eigenständig und selbstbewusst, zurückhaltend und misstrauisch sowie stets wachsam in Bezug auf ihre Ressourcen. („HSH – Hirtenhunde / Herdenschutzhunde“, M. Cordt, Verlag Caniversum)


Aus etlichen Anfragen zu unseren Tierschutz-HSH ist herauszuhören, dass geglaubt wird, den „Stein des Weisen“ gefunden zu haben, irgendeinen beliebigen HSH zu Herdentieren zu nehmen mit der Erwartung „Das passt. Das ist ja ein HSH“. Aber so einfach ist es nicht! Es sollten sich vorab Gedanken darüber gemacht werden, ob die notwendigen Voraussetzungen für die Haltung gegeben sind, oder ob überhaupt eine Notwendigkeit des Herdenschutzes besteht. Wie sind die räumlichen Gegebenheiten? Wie sind die Befähigung und das Verständnis des Betreuers? Wie findet die Auswahl der Hunde statt?

Einen einzelnen, beliebigen HSH „einfach so“ zu Herdentieren zu stecken und zu erwarten, dass dieser nun die Erfüllung gefunden hat und „perfekt funktioniert mit Einstellung ab Werk“ ist naiv. Ein HSH wird für den Arbeitseinsatz weniger vom Menschen erzogen, sondern er wächst in dem Umfeld auf, in dem er seine Arbeit verrichten soll und lernt durch erfahrene Hunde. Er schaut sich die Arbeitsweise ab und lernt am Vorbild. Wie sich in vielen Gesprächen immer wieder zeigt, wird dem Hund, wenn diese Lehrstunden fehlen und er dadurch seine Arbeit nicht wie gewünscht macht, kurzsichtig die Schuld dafür gegeben. So ist mir unter anderem ein Fall von einem Schäfer bekannt, der von seinen halbjährigen HSH einen Schutz der Herde erwartete und diesen verprügelte, weil er sich bei einem Wolfsangriff versteckte.

Es ist leider keine ungewöhnliche Erwartungshaltung: Vom HSH wird erwartet, dass er wie ein technisches Gerät perfekt die Herdentiere schützt und in keiner Weise Ansprüche stellt. Wird der HSH ausschließlich als reines Nutztier, als ein zu funktionierender Wirtschaftsfaktor für einen möglichst großen „Ertrag“ (i.e. Schutz der Herde) gesehen und werden seine eigene Persönlichkeit und seine elementaren Bedürfnisse missachtet, so ist dies ein unwürdiges Leben und wird früher oder später zu Problemen führen. HSH sind wie alle Hunde in erster Linie sozial organisierte Lebewesen. Auch wenn die Herdentiere als soziale Ressource angesehen werden, erfüllen sie nicht das Bedürfnis nach Kontakt mit einer Bezugsperson wie ein anderer Hund oder Mensch. Aus diesem Grund mache ich eine Haltung von mindestens zwei HSH im Herdenschutz zur Bedingung, ohne dass dabei auf den Kontakt zu seinen Menschen verzichtet wird.

Ob eine Haltung im Herdenschutz oder in der Familie, der Sozialkontakt zu seinem Menschen sollte klar unterschieden werden von einer Bevormundung und Gängelei. Hier ist der springende Punkt: Die HSH genießen den guten Sozialkontakt zu ihren Menschen, aber ein permanentes Vorschreiben von Verhaltensweisen finden sie lästig und unnötig. Besonders wenn derjenige, der über sie zu bestimmen gedenkt, in ihren Augen dazu keine Berechtigung hat, weil er sich beispielsweise als unbeherrscht, gewaltbereit und unzuverlässig erweist, anstatt souverän, führungskompetent, vorausschauend und fürsorglich. In meiner Tierschutzarbeit und in der Verhaltensberatung in meiner Hundeschule www.dog-inform.de erlebe ich die unglaublichsten Ansichten: so scheinen leider einige Menschen einen derben Schlag ins Gesicht des HSH, ein kräftiges Kneifen in diverse Körperregionen als „Basisausrüstung“ in der Erziehung von HSH zu verstehen, damit sich der Mensch als „Anführer durchsetzt“. Diese Einstellung ist brutal und einfältig! Mir blutet dabei immer das Herz, erlebe ich doch diese faszinierenden Wesen als außerordentlich feinfühlige und sensible Hunde. Sind unsere Tierschutz-HSH endlich in den Genuss der Fürsorge von verständigen Menschen im familiären Zusammenleben gekommen, möchten sie diese nicht mehr missen.


Diese Fürsorge steht in krassem Gegensatz dazu, diese Hunde nur auf ihr Wachbedürfnis zu reduzieren und ihnen - unter dem Vorwand, sie wären so eigenständig – nur wenig Menschen- und / oder Hundekontakt zuzugestehen. Schließlich ist Eigenständigkeit nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einem Eremitenleben! Auch die Führungsstärke dieser Hund führt schnell zu Fehlinterpretationen: Ein Hund, der eine Führungskompetenz hinterfragt, ist noch lange kein Eigenbrötler oder „dominant“.


Zu unterscheiden sind die elementaren Bedürfnisse von den besonderen Bedürfnissen. Aufgrund der Veranlagung des HSH sollte unbedingt auch seinem Wach- und Schutzbedürfnis Rechnung getragen werden: Aufpassen, sein Gelände abwandern, nach dem Rechten schauen, auf seine Ressourcen achten, das ist seine Passion. Da unter den schützenswerten sozialen Ressourcen nicht nur Herdentiere verstanden werden, achtet er natürlich auch auf seine Menschen, seine Hundefreunde, seine Katzen, welche Tiere auch immer mit ihm im Sozialverband zusammenleben. Gegen dieses Verhalten zu arbeiten (es gewissermaßen ersatzlos zu streichen) ist absolut unsinnig und würde gegen das Naturell der HSH verstoßen. Man sollte stattdessen mit diesem Verhalten arbeiten und es in angemessene Bahnen lenken.

Auf das Thema Ressourcenverteidigung im Detail einzugehen, würde bei Weitem den Rahmen dieses Artikels sprengen. Da es sich in meiner Hundeschule und in der Verhaltensberatung immer wieder gezeigt hat, dass es zur Ressourcenverteidigung viel Unwissen und eine Hund-ungerechte Wahrnehmung gibt, habe ich diesem Thema einen ganzen Band (Band 4: Der Weg zur inneren Mitte – Ressourcensicherung und das innere Gleichgewicht“) in meiner neuen Buchreihe „Ich halte Dich – Ein Wegweiser für ungehaltenen Hunde“ (www.verlag-caniversum.de) gewidmet. Dieser Band erscheint im Jahr 2015.

Wird das Schutzverhalten der HSH berücksichtigt, so zeigen sie sich als sehr sozial kompatible Hunde, was jedoch nicht dahingehend falsch verstanden werden darf, dass sie mit „Hinz und Kunz“ klarkommen, egal wie, wo und wann sich ihnen genähert wird. In meiner Familie im häuslichen Umfeld lebt immer eine Gruppe von 7-9 HSH, die ich im Erwachsenenalter aufgenommen habe. Alle kannten in der Regel kein Leben im Haus, sie waren vormals weggesperrt mit unzureichendem menschlichen Kontakt. Kontakt zu anderen Hunden war in der Regel ebenfalls nicht / kaum gegeben.


Es ist nicht verwunderlich, dass sich diese Hunde allein schon aufgrund ihrer Eigenständigkeit nicht so leicht fremden Menschen anschließen. Daraus den Rückschluss zu ziehen, ihnen läge nichts an menschlicher Gesellschaft, ist jedoch falsch. Bis sie Vertrauen zum Menschen aufgebaut haben, bereit für eine Bindung sind und sich führen lassen, vergeht eine gewisse Zeit. Diese ihnen zuzugestehen sollte selbstverständlich sein. Erweist sich der Mensch als besonnen und gewaltfrei, vertrauenswürdig, beständig, fürsorglich und führungskompetent, dann zeigt sich die ungeheure Sensibilität, herausragende Feinfühligkeit und Anhänglichkeit der HSH, ohne dass sie dabei ihre Eigenständigkeit aufgeben. Ein beglückendes Zusammenleben!

© August 2014
Mirjam Cordt - DOG-InForm
Therapie- und Ausbildungszentrum
für Hunde und ihre Menschen
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